Ja, Nordhessen ohne Ahle Wurscht ist wie Bayern ohne Weißbier. Nicht zuletzt deshalb ist sie eine klassische Delikatesse Nordhessens. Durch ihr striktes Herstellungsgebot ist sie zudem zum Inbegriff eines hochwertigen, bodenständigen Nahrungsmittels geworden. „Ahle Wurscht“, der Name gibt bereits zwei Hinweise: Erstens beschreibt er die lange Reifezeit bis zum genussreifen Produkt und zweitens bezeugt er die althergebrachte Fertigkeit des Wurstens.
In Hessen Tradition!
„Der Nordhesse an sich, der braucht nicht viel, geht beharrlich und geradewegs ans Ziel. Aber eins braucht er zum Leben unbedingt: Ahle Wurscht, wie sie nur in Nordhessen gelingt.“ – Isolde Posch (Die Bartenschwätzer)
Diese stammt aus einer Zeit, in der die Bewohner noch ohne Kühlschränke, Fast-Food-Ketten und Konservierungsstoffe auskommen mussten – oder durften. Dafür hatten sie ein oder mehrere Schweine am Haus, teilweise auch eine Kuh, dazu kamen Hühner für die Gewinnung garantierter Bioeier. Alles diente vor allem der eignen Ernährung und musste nicht kommerziell vermarktet werden. So duften sich die Schweine auf Stroh betten und bekamen täglich leckeres aus dem „Schweineeimer“ direkt aus der eigenen Küche in den Trog. Angereichert wurden diese Abfälle mit Erbsen und Bohnen, Lupinen, Kartoffeln oder Rüben. Auf Soja und Gentechnik dagegen mussten die Steckdosennasen verzichten, zur Entschädigung durften sie hinaus auf die Weide, wühlen, sich suhlen, in der Sonne brutzeln. Und so lebten sie in der Grimm Heimat glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.
Dieses kam meist im Alter von ca. einem Jahr im Herbst oder Winter, wenn für die Nordhessen die sonstige Arbeit auf dem Feld erledigt war und der jährliche Schlachttag vor der Tür stand. Dann kam der Hausschlachter zu Besuch und erwählte das glückliche Schwein für die Ahle-Wurst-Herstellung. Wer weniger als 150 kg auf die Waage brachte, fiel heraus, wer dieses Gewicht zu schnell erreicht hatte allerdings auch und wer noch zu jung war, erhielt auch noch keinen Einlass. Denn reiferes Fleisch mundet- ebenso wie reifere Wurst – besser und das Verhältnis von Fett zu Fleisch ist für den Genuss entscheidend.
Zwar wird heute nicht mehr, wie zu Opas Zeiten, zu Hause geschlachtet, doch soll das, was früher rein nordhessisch war, heute auch noch so sein. Das gebieten die Achtung vor dem Tier und der Wunsch nach qualitativ hochwertigem Fleisch. Für die Ahle Wurst sind nur echte nordhessische glückliche Schweine gut genug, wer weiter als 30 km vom Schlachter entfernt aufgewachsen ist, darf höchstens auf ein Ende als Schnitzel hoffen. Schließlich will der Genießer sich die Ah le Wurst entspannt schmecken lassen und nicht den Geschmack des Stresses auf der Zunge haben, den die Schweine beim langen Transport hatten. So tut der Gaumen gleich etwas für den aktiven Tierschutz! Da das gewonnene Fleisch zu Opas
Zeiten im Prinzip über das ganze Jahr – bis zum nächsten Schlachttermin – reichen musste, musste es sorgsam konserviert werden. Doch darauf verstanden sich die findigen Nordhessen schnell und entwickelten ein ausgeklügeltes Reifeverfahren für
ihre Würste, die so monatelang haltbar wurden. Nach der Schlachtung wurde und wird das Fleisch umgehend verarbeitet und nicht erst gekühlt. Innerhalb von 30 Stunden muss es spätestens in die Wurst. meistens geht es schnell er. Das auserwählte Schwein wird komplett verwurstet, auch die edelsten Fleischteile werden verwendet. Einmal zerlegt, kommt alles gemeinsam in den Fleischwolf, wird durchgedreht und durchgemengt.
Nun kommt das hinzu, was ein Ahle-Wurst-Fabrikant nicht einmal auf der Folterbank verraten würde: Die Würzmischung. Hier hat jeder seine Vorlieben, seinen Geschmack und je nach Herstellung und Region wird das Ensemble aus besten Salzen, Pfeffer, Zucker, Muskat, Knoblauch und Salpeter mit anderen Gewürzen wie beispielsweise Piment, Senfkörnern oder Kümmel abgemischt. Die gewürzte Masse kommt anschließend in den Darm (oder je nach Kaliber in eine andere tierische Hülle) und von dort in die Reifekammer. Hierzu bot sich dem Opa häufig eine Lehmkammer in den vielzähligen, wunderschönen nordhessischen Fachwerkhäusern. Darin hielt sich die für die Reifung ideale Luftfeuchtigkeit von 85- 92 % beständig aufrecht. Heute übernehmen moderne Reifekammern diese traditionelle Aufgabe mit gleichem Erfolg. Auf Holzstangen gehängt, harren die Würste nun aus, gemeinsam und doch einsam, denn berühren dürfen sie einander nicht, und reifen „. und reifen „. und reifen, je nach Wurst und Kaliber unterschiedlich lange. Die dünnen Vertreter wie die Stracke sind bereits nach 4-6 Wochen tischfertig, die schweren brauchen typischerweise länger und sind erst nach mehreren Monaten ahl.
Bleibt also Zeit, den Prozess etwas genauer zu beleuchten. In den ersten Tagen gärt die Rohwurst, dabei wird sie grau und der pH-Wert fällt innerhalb von 2-3 Tagen auf bis zu 4,0. Dadurch schmeckt sie in diesem Stadium säuerlich, ist zum Verzehr eigentlich nicht geeignet. Wer es mag, kann die Ahle Wurst auch mit weißem Edelschimmel haben, dann wird dieser im Reifeprozess nicht abgewaschen oder abgebürstet. Alles eine Frage des Geschmacks eben. Dazu gehört auch, ob die Wurst nur luftgetrocknet oder geräuchert und luftgetrocknet wird. Für die Herstellung allerdings ist dies relativ unbedeutend, denn die zu räuchernde Wurst wird lediglich nach dem dritten Tag für eine Nacht angeräuchert. Den Rest übernimmt die Zeit, unterstützt durch die gleichmäßig hohe Luftfeuchtigkeit und nur geringe Temperaturschwankungen. langsam trocknen die Würste von außen nach innen. Dabei kommt die rötliche Färbung zurück und es verdunstet so viel Feuchtigkeit, dass bis zu 50 % des Füllgewichts verloren gehen. Dabei wird die Wurst immer mürber und der enthaltene Salpeter (E251) vollständig abgebaut. Und da nicht jeder Tag, jede Woche, jedes Jahr gleich ist, schmeckt jede Ahle Wurst etwas anders. Aber alle haben eins gemeinsam: Alle sind gut! Und das liegt nicht zuletzt daran, dass sich der Förderverein Nordhessische Ahle Wurscht deren Erhaltung zur Aufgabe gemacht und Richtlinien zu Inhaltsstoffen und Herstellung entwickelt hat. Danach soll eine Ahle Wurst niemals säuerlich schmecken! Diesen Makel beim Geschmackserlebnis überlassen die Nordhessen der Salami. Zudem darf sie äußerlich hart und trocken sein, denn das trägt zu ihrer Haltbarkeit bei, muss aber insgesamt im Biss „mürbe wie Marzipan“ auftreten. Und auch, wenn die perfekte Gewürzmischung wie ein Goldschatz gehütet wird, sollte doch vor allem der Hauptstoff zu schmecken sein: Das Fleisch! Und schließlich ist der Tag endlich da, an dem die Ahle Wurscht angeschnitten werden kann! Früher war das meist zum 1.Advent, heute kann man sich glücklich schätzen, dass man das ganze Jahr über welche kaufen kann. Doch wo? Das muss jeder selbst herausfinden, denn den besten Ahle-Wurscht-Verkäufer wird kein Nordhesse verraten. Zu groß ist die Angst, dass einem ein anderer die letzte Ahle Wurscht vor der Nase wegschnappt!
Quelle: WilderLeben 2-2014