Der Wursthimmel hängt über Nordhessen: Die Ahle Wurscht kann es locker mit Italiens Feinkost aufnehmen. Wir zeigen zehn besondere Sorten.

Der Wiener Kunstphilosoph Peter Kubelka bezeichnet die Wurst als ein Idealwesen, als ein paradiesisches Schwein. Und Wursthimmel – klingt das nicht wie Schlaraffenland? Auf dem Gemälde des Renaissance-Malers Pieter Bruegel des Älteren läuft ein gebratenes Schwein mit Messer und Gabel im Rücken den Essern entgegen. Ob die faule Völlerei nun tatsächlich Versprechen oder Drohung darstellt, ist indes nicht nur für Vegetarier fraglich. Ein Dachboden hingegen, an dessen Balken hängend unzählige Würste duftend ihrem geschmacklichen Höhepunkt entgegenreifen, wird wohl nur überzeugte Fleischablehner misstrauisch machen.

Wer jetzt an Italien denkt und vor dem inneren Genießer-Auge Felino, Cacciatorini oder Finocchiona baumeln sieht – weit gefehlt. Der Wursthimmel liegt viel näher, in Nordhessen, in den Dachkammern der traditionellen Fachwerkhäuser. Denn geschlachtet wurde hier (wie in vielen anderen Gegenden) bei den ländlichen Selbstversorgern viele Jahrhunderte lang zu Hause, in den Wintermonaten. Um das frische Fleisch haltbar zu machen, verarbeitete man es mit Gewürzen zu einem groben Brät, stopfte dieses in Naturdärme und hängte die Würste zum Trocknen und Reifen auf. Atmungsaktive Lehmwände und der natürliche Klimarhythmus ließen zusammen mit handwerklicher Sorgfalt und Erfahrung das rohe Fleisch in den Därmen zur Ahlen Wurscht heranreifen, zur alten Wurst.

Heute sind hingegen handwerklich arbeitende Metzgereien für die Herstellung der Ahlen Wurscht zuständig, der einzigen traditionell luftgetrockneten Rohwurst Deutschlands. 2004 formierte sich ein regionaler Förderverein. Der bewahrt nicht nur die mindestens 150 Kilo schweren, über ein Jahr langsam gemästeten Wurstschweine regionaler Rassen vor dem Verschwinden, sondern wacht auch über die handwerklichen Methoden, um weiterhin ohne industrielle Reifehilfsmittel und Zusatzstoffe auszukommen. Wursthimmel müssen gegen die trockene Wärme von Zentralheizungen verteidigt werden, obgleich heute durch moderne Kühlanlagen in vielen Fällen rund ums Jahr produziert wird. Noch schlachtwarm, so dass die Zugabe von Phosphat überflüssig ist, werden die Schweine in ihrer Gesamtheit (obgleich meist mit Ausnahme von Filet und Eisbein) zu Ahler Wurscht verarbeitet.

Die langsame Eiweiß- und Fettzersetzung sorgt für den charakteristischen Geschmack und den mürben Biss, ganz anders als Salami. Manche Metzger bieten neben ausschließlich luftgetrockneten auch leicht geräucherte Varianten an oder solche mit Edelschimmel. So oder so schmeckt sie am besten bei 18 bis 20 Grad, in dicken Scheiben. Es gibt in Nordhessen sogar Stimmen, die den Italienern die Erfindung der Salami streitig machen – doch ein so grundlegendes kulinarisches Verfahren lässt sich wohl genauso wenig an einem Ursprung verorten wie Käse oder Brot.

 

Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 10.03.2013