Endlich September. Endlich wieder ein Monat mit „R“.

Vier Monate war Thomas Koch wie auf Entzug. Kein „R“ im Monat – keine Ahle Wurscht. Für einen Mettwurst-Abhängigen wie ihn ist das eine schwere Prüfung, denn in der warmen Jahreszeit kann der Metzger aus dem nordhessischen Dorf Calden keine Mettwurst machen. In seinen Lehmkammern wird es im Sommer zu warm. Doch jetzt ist er wieder in seinem Element und zeigt uns das Ergebnis des Schlachttags.

Zu Hunderten hängen die Würste in den Lehmkammern. Sie sind noch warm. Koch fackelt nicht lange, wenn er ein Schwein vor sich hat. Per Elektroschock befördert er es ins Jenseits, und dann geht alles ganz schnell: ausbluten lassen, brühen, rasieren, das Fleisch durch den Wolf drehen, Mett machen. Das Mett ist die Seele der Wurst. Nur gute Wurstschweine bringen gutes Mett. „Ein richtiges Wurstschwein muss ausgenommen 150 Kilo auf die Waage bringen“, sagt Thomas Koch. Seine Schweine stammen von Bauern der Umgebung, sind auf Stroh aufgewachsen. Das ist Koch wichtig. Er schnappt sich einen frischen Ring aus dem Gestell, schneidet ihn auseinander und lässt uns probieren. Wir spüren warmes, kräftig gewürztes Schweinefleisch im Mund. „Wenn wir unser Mett in die Därme füllen, hat das noch dreißig Grad, ruckzuck geht das! Das ist Warmfleischverarbeitung!“

Hausschlachtung, Warmfleischverarbeitung, historische Lehmkammern: Bei diesen Stichwörtern sehen die Eurokraten rot und versuchen mit ihren sterilen Verordnungen, so seltenen Kulturträgern wie Thomas Koch das Handwerk zu legen. Sie wollen ihn zwingen, sich wie die meisten seiner Kollegen kalte, anonyme Schweinehälften aus dem Schlachthof kommen zu lassen. Aber das lehnt dieser Metzger ab. „Die Sau muss bei mir sterben, nur dann kann ich echte Ahle Wurscht machen.“ Die ist immer nur aus einem Schwein gemacht. „Wir verarbeiten hier jedes Schwein einzeln. Da wird kein Mett gemischt.“ So gibt jedes Schwein seinen individuellen Charakter an die Wurst weiter: der Fettgehalt schwankt von Sau zu Sau. Form und Farbe variieren. Auch die Konsistenz ist unterschiedlich. Je nach Kaliber und Reifezeit. „Da ist frischer Knoblauch drin, nicht dieses stinkige Trockengranulat. Und den schwarzen Pfeffer mahle ich erst unmittelbar vor dem Würzen.“

Gegen Ende der „R“-Saison, im April, hängt unter den Dachpfannen seiner Fachwerkhäuser ein Jahresvorrat von 25 bis 30 Tonnen Dürre Runde und Stracken. Nach sechs bis zehn Monaten Reifezeit haben die Würste bis zu 30 Prozent Gewicht verloren. Rund neun Tonnen, also 60 Schweine, lösen sich einfach in Luft auf. Koch ist der Antriebsmotor im Förderverein Nordhessische Ahle Wurscht, und er hat noch großes vor mit seiner Spezialität: „Im Herbst fahre ich nach Turin zum ,Salone del Gusto‘.“ Ausgerechnet auf der einflussreichen Lebensmittelmesse von Slow-Food will er die salamiverrückten Italiener mit seiner Ahlen Wurscht beeindrucken. „Wir verwenden keine Starterkulturen“, sagt er, „keine Geschmacksverstärker und auch keine Reifebeschleuniger. Ahle Wurscht kann man nicht schnell machen, die braucht ihre Zeit.“ Radikal einfach ist die Rezeptur und verblüffend primitiv die Verarbeitung. Beides geht in der Ahlen Wurscht eine geniale Synthese ein.

Diese Mettwurst ist das Zen der Hausschlachtung. Einziges Zugeständnis an den Zeitgeist: Sie enthält heute weniger Fett als früher.

 

Quelle: Welt am Sonntag 17.09.2006