Wurst Case (von Julia Grass)

Katharina Koch studierte in Berlin und Paris, arbeitete bei den Vereinten Nationen in New York und gab dann alles auf, um in einem Dorf bei Kassel die Metzgerei der Eltern zu übernehmen.

Montags und donnerstags achtet Katharina Koch darauf, an ihrem Arbeitsplatz nicht auf Blut auszurutschen. Montage und Donnerstage sind Schlachttage. In der Luft hängt ein intensiver Fleischgeruch. Wenn der Vater und die Brüder mit schnellen Schritten durch die Schwingtür der Schlachterei hinein- und hinauslaufen, tragen sie mit ihren Sicherheitsschuhen das Blut über die Fliesen in die Flure der Metzgerei.

Katharina Koch, 31, läuft ungerührt hindurch. Sie trägt ihre Haare zum Pferdeschwanz gebunden, eine enge Jeans und ein kariertes Hemd, darüber eine weiße Kittelschürze. „Landfleischerei Koch“ steht darauf. Die Fleischerei in Kassel-Calden existiert seit 1877, immer im Besitz der Familie Koch. Ihre neue Chefin ist, in fünfter Generation, Katharina.

Fragt man junge Frauen nach Ihren Träumen, dürfte ein Alltag zwischen Würsten und Fleischkäse nicht unbedingt an erster Stelle stehen. Stattdessen wahrscheinlicher – Reisen, internationale Karriere, Großstadt-Lifestyle und Luxus-Leben. Die wenigsten jungen Frauen können sich dieses Leben aussuchen, Katharina Koch konnte das. Und hat es aufgegeben, um ausgerechnet Metzgerin zu werden.

Es ist sieben Uhr morgens, Koch sortiert Hartwürste in Kisten. Ahle Wurst nennt man die nordhessische Spezialität, eine luftgetrocknete Dauerwurst, für deren Herstellung die Kochs bekannt sind. Läden, Bäckereien und Bio-Märkte aus Kassel und Umgebung haben Würste bestellt. Früher hätte sie zu dieser Zeit noch zwei Stunden geschlafen. Oder wäre aus einem Berliner Klub herausgestolpert.

Nach dem Abitur lag ihr nichts ferner, als in der Metzgerei ihrer Eltern zu bleiben. Raus aus dem Dorf wollte sie. Nach einem Auslandsaufenthalt in Paris studierte sie Politik- und Kommunikationswissenschaft in Berlin. Sie wohnte im Bezirk Mitte, hatte einen Freund in Paris, gute Noten. Die Eltern halfen finanziell. „Ich hatte nie wieder so viel Freizeit wie damals“, sagt sie heute. Abende mit Freunden, Berlins Cafés, Restaurants, Bars. Als Werkstudentin arbeitete sie im Bundestag im Büro des damaligen FDP-Abgeordneten ihres Wahlkreises. 2011 zog sie nach Paris, um an der Universität Sorbonne ihr Masterstudium anzuschließen. Dann ergatterte sie einen der wohl begehrtesten Praktikumsplätze für Politikstudenten – bei den Vereinten Nationen in New York. Spätestens mit diesem Schritt standen ihr alle Türen offen. Sie hätte haben können, was sie immer wollte: eine internationale Karriere.

Zu Hause ausgeholfen hat sie immer, in den Schul- und Semesterferien. Es waren Ausflüge zurück in die Bodenständigkeit aus einer Welt, in der sie immer das Gefühl hatte, dass etwas fehlt, sich nichts bewegt. Sie war dabei, als in New York die Syrien-Resolution beschlossen wurde. „Damals dachte ich – was für ein bedeutender Moment, der alles ändern wird. Und wie sieht es in Syrien heute aus?“ Sie lässt diesen Satz im Raum stehen. Es ist ihre Antwort auf das Warum – auf das „Wie kann man nur, an diesem Punkt in der Karriere, nach so viel Studium“.

Die Frage nach dem Sinn ihrer Arbeit konnte Katharina Koch sich lange nicht beantworten. Zum Glücklichsein fehlte etwas in diesem Leben, das sich so viele wünschen. Also tauschte sie es ein. Friseurbesuche gegen täglichen Pferdeschwanz, ein Leben zwischen Paris, Berlin und New York gegen eines zwischen gekachelten Wänden und herabhängenden Schweinehälften. Sie ist zufriedener denn je.

„Mir hat schlichtweg der Bezug zu meiner Arbeit gefehlt“, sagt sie und meint – zu sehen, was sie schafft und leistet. Heute, sagt sie, sieht sie diese Leistung klarer. Produzieren, verkaufen und unmittelbar zu hören, dass die Kunden zufrieden sind – das ist ein Gefühl, das Katharina Koch lange gefehlt hat. Früher war da eine diffuse Unzufriedenheit, das Gefühl, nirgendwo anzukommen. Als sie ihrem Vater am Telefon von diesem Unwohlsein erzählte, fragte er: „Könntest du dir nicht vorstellen, zurückzukommen?“ Damals waren alle drei Kinder ausgeflogen, auch die Brüder hatten kein große Interesse an der Metzgerei gezeigt. Ein Problem, das in mittelständigen Betrieben weit verbreitet ist. Unter Fleischern sowieso. Seit 2006 gab jeder vierte Metzgerbetrieb auf, insgesamt 4500 Unternehmen sind verschwunden.

Katharina Koch dachte über die Entscheidung nach, traf sie – und hat sie seitdem nicht bereut. „Natürlich gibt es Tage, an denen ich auch gern mal länger schlafen würde. Und so spontan wie früher mal ein paar Tage wegfahren, kann ich auch nicht mehr so gut“, sagt sie. Aber meistens fehle ihr gar nichts – selbst wenn sie an Wochenenden arbeite.

Sie steht im Büro der Fleischerei, ihr Vater Thomas Koch, 63, sitzt an einem alten Schreibtisch, raucht Zigarre, wie wahrscheinlich vor ihm ganze Generationen der Familie. Er hat nie eingefordert, dass seine Kinder die Fleischerei weiterführen. Dank Katharina hat die Landfleischerei nun einen Onlineshop, versendet ihre Spezialitäten quer durchs Land. An der Frankfurter Fleischer-Fachschule absolvierte sie in drei Monaten einen Intensivkurs als Verkaufsleiterin im Nahrungsmittelhandwerk – als Jahrgangsbeste. In ihrem 15-Mann-Betrieb ist sie nun hauptsächlich für die Organisation, Verwaltung und Kommunikation verantwortlich. Wenn jemand ausfällt und viel zu tun ist, packt sie auch in der Wurst- und Fleischproduktion mit an.

Mit ihrem Vater setzt sie kreative Ideen um. Bratwurst mit Gummibärchen als Geheimzutat haben sie ausprobiert oder Wurst mit Honig. Auch die Idee, einen Wurstautomaten am Bahnhof in Kassel aufzustellen, kam von ihr. Sie knüpft Kooperationen mit Restaurants. Sie bloggt für den Onlineauftritt einer Lokalzeitung, sitzt im Vorstand der Fleischerjunioren.

Ein Abend in Berlin. Katharina Koch trägt eine dunkle enge Jeans, darüber eine weiße Seidenbluse. Statt des fahlen Lichts der Metzgerei funkeln Kristalleuchter an alten Holzdecken. Ein Berliner Sterne-Restaurant hat seine Lieferanten eingeladen. Ahle Wurst wird auch in Berlin serviert, auch Berlins ehemaliger Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit ist da. Katharina Koch trinkt Champagner und unterhält sich fließend auf Französisch.

Es ist ein Abend mit viel Luxus, Smalltalk und Oberflächlichkeiten. Katharina Koch spielt mit, sie kann das. Es ist eine Welt, die ihr nicht fremd ist, in der sie sich wie selbstverständlich bewegt, die sie auch genießt. Nur in wenigen, heimlichen Momenten, wenn keiner hinsieht, verdreht sie ab und zu die Augen.

Quelle: www.welt.de