Chapeau! Nun hat sie auch noch die akademischen Weihen bekommen: Die luftgetrocknete Ahle Wurscht vom findigen Metzgermeister Thomas Koch aus Calden.

Nicht irgendwo, sondern in Oxford, einer der ältesten und renommiertesten Universitäten der Welt, musste sich die kulinarische Schönheit aus Nordhessen beweisen. Sie war geladen zu einer Feinschmeckertagung. Handverlesen auch die Botschaftskollegen aus Italien und Spanien, die in der Disziplin „Lebensmittel eingewickelt und gefüllt“ (,,stuffed an wrapped“) aufliefen. Neben der Roten aus Nordhessen waren Mortadella und Finocchiona aus der Toskana, Salchichons aus Katalanien und Corallina aus Umbrien am Start. Bedingung für die Teilnahme am Oxford Symposium: Die Würste mussten das imaginäre Siegel vorweisen können, offizielle Botschafter ihrer Region zu sein.

Auf die kulinarischen Kunstwerke aus Calden war die Journalistin und Buchautorin Dr. Janet Davison bei einem Besuch im Wurstehimmel aufmerksam geworden. Das 1981 gegründete jährlich stattfindende Oxford Symposium on Food and Cookery befasst sich mit der Geschichte der Lebensmittel. Feinschmecker und Journalisten tauschen sich über alte und neue Rezepte und Zubereitungstechniken aus und erörtern auch ethische Aspekte. Klar, dass der engagierte Metzgermeister Thomas Koch da nur punkten konnte.

Das Wissen um die Herkunft der Tiere (ungefähr 140 Kilo schwer und mit festem Muskelfleisch), die Tradition des Metzgerhandwerks über fünf Generationen, Leidenschaft für das Produkt und eine einzigartige Textur machen die Ahle Wurscht aus Calden zu jenem Gaumenerlebnis, das Nordhessen, aber auch Münchner, Berliner und Hamburger lustvoll genießen können. „Fest von außen, auch leicht in Scheiben zu schneiden, wird das Fleisch im Mund locker und mürbe wie Blätterteig. Der Geschmack ist komplex. Es gibt keine andere luftgetrocknete Wurst wie diese“, hieß es in der Laudatio.

Nur wenige Fleischer haben sich, so wie Thomas‘ Vater Henry Koch, dem Trend der industriellen Wurstproduktion widersetzt; haben familiäre und regionale Rezepte gesucht und aufleben lassen. Die Verarbeitung von schlachtwarmem Fleisch schützt zudem Tier und Mensch vor langen Transportwegen. Und dann der lange Reifeprozess, der zwischen drei und 12 Monate dauert und der „Ahlen Wurscht“ ihren Namen gegeben hat. Das Reifen in der Wurstekammer mit Wänden aus natürlichem, unbehandeltem Lehm (statt Edelstahl und Fliesen) ist ein Sieg des nordhessischen Fleischerhandwerks gegen die Standardisierungs-Pläne der EU-Bürokraten. Auch das hat den Lebensmittelexperten an der Universität Oxford gefallen. Expertin Dr. Janet Davison fiel es offenbar nicht schwer, das hohe Lied von der hohen handwerklichen Kunst und dem hohen Anspruch der nordhessischen Wurstmacher zu singen. Das Prädikat „Kulturmetzger“ aus den Aktionen zur documenta 12, wurde von der Oxford-Rednerin erweitert: Ein „Künstler-Metzger“ sei Thomas Koch aus Calden.

Oxford Symposium on Food and Cookery

Es gibt nur wenige Würste, die zu den „offiziellen Botschaftern“ ihrer Region erklärt worden sind. Dass die „Ahle Wurscht“ zu dieser Ehre gekommen ist, liegt an der besonderen Qualität dieser luftgetrockneten Wurst sowie der Entschlossenheit der nordhessischen Fleischer, ihre Wurst fortwährend entsprechend der lokalen Traditionen herzustellen. Thomas Koch ist einer dieser Fleischer. Er ist ein Koloss von einem Mann, weit über 1,80 m groß mit einer laut hallenden Stimme. Seine Leidenschaft für seinen Beruf und seine „Ahle Wurscht“ ist in jeder seiner Bewegungen zu spüren. Und es handelt sich tatsächlich um eine Wurst, auf die man stolz sein kann.

Die „Ahle Wurscht“ hat eine einzigartige Textur: Während sie sich von außen fest anfühlt und auch leicht in Scheiben schneiden lässt, wird das Fleisch im Mund locker und mürbe wie Blätterteig. Der Geschmack ist komplex. Es gibt keine andere luftgetrocknete Wurst wie diese. Als Fleischer in vierter Generation leitet Thomas Koch den Familienbetrieb, welcher sich in einem im Jahr 1877 von seinem Großvater erbauten Fachwerkhaus in einem kleinen Dorf namens Calden befindet. Das Haus Koch besteht aus dem Wohnhaus der Familie, einem Gasthaus, dem Produktionsbereich und den Verkaufsräumen. Die schrittweise erfolgten Erweiterungen des Familienbetriebs haben dazu geführt, dass das Haus Koch heute einem verzweigten Labyrinth gleicht, welches zum Zentrum von Thomas‘ Einsatz dafür geworden ist, der „Ahlen Wurscht“ zu neuem Ansehen zu verhelfen.

Für einen Dorfmetzger betreibt Thomas Koch eine relativ große Fleischerei, er beschäftigt 15 Mitarbeiter, darunter auch seine Frau Sigrun, ihre beiden Söhne und auch seine Mutter, welche – obwohl sie bereits über 80 Jahre alt ist – noch immer in der Fleischerei beim Schnitzel schneiden anzutreffen ist. Es war Thomas‘ Vater, Henry, der nach alten familiären und regionalen Rezepten suchte, um traditionelle Produkte wie die „Ahle Wurscht“ neu zu vermarkten und handwerkliche Wurstwaren herzustellen, welche im Supermarkt nicht erhältlich sind.

Traditionell wurde diese lange gereifte Wurst mit grober Textur ausschließlich von Privatpersonen in eigener Schlachtung hergestellt. Professionelle Fleischer hingegen konzentrierten sich darauf, mit ihren modernen Hack- und Mischmaschinen möglichst feine Wurst zu produzieren. Heute hat sich dies geändert. Während manche Nordhessen auch weiterhin selbst schlachten, gibt es nur wenige Fleischer, die sich auf die Herstellung der „Ahlen Wurscht“ spezialisiert haben und die nicht dem Trend der industriellen Wurstproduktion, wie sie von vielen der Kollegen und auch von den lokalen Wurstfabriken praktiziert wird, gefolgt sind. Diese kleine Gruppe von Fleischern hat sich dem Erhalt der Tradition einer natürlichen, luftgetrockneten Wurst verschrieben, so wie sie seit mehr als 600 Jahren in der Mitte Deutschlands hergestellt wird.

Für eine echte „Ahle Wurscht“ benötigt man, wie Thomas mir erklärt, ein besonderes Schwein. Es muss langsam aufwachsen und mindestens ein Jahr alt sein: Ein altes Sprichwort besagt, dass ein Schwein die Weihnachtsglocken zwei Mal gehört haben sollte, bevor es geschlachtet wird. Ein ausgewachsenes Schwein, welches ungefähr 140 kg wiegt und gut entwickelte Muskelfaser aufweist, hat einen besseren Geschmack und weniger Wasser im Fleisch. Je geringer der Wassergehalt einer Wurst ist, desto besser trocknet und reift sie. Junge, „turbo-gezüchtete“ Schweine, wie Thomas die typischen, modernen Rassen in Europa nennt (diese werden im Alter von vier bis sechs Monaten und bei einem Gewicht von 65-90 kg geschlachtet) haben Fleisch mit wenig Geschmack und hohem Wasseranteil. Die von diesen Schweinen stammende Wurst lässt sich dementsprechend nur schwer trocknen und hat wenig Geschmack.

Um sicher zu gehen, nur langsam aufwachsende Schweine zu schlachten, wählt Thomas seine Schlachtschweine selbst aus: Er schlachtet vor allem „Edelschweine“ oder Kreuzungen dieser alten, deutschen Rasse mit moderneren Rassen. Die Schweine werden mit organischen Futtermitteln bestehend aus Getreide, Hülsenfrüchten und Kartoffeln ernährt. Als Landmetzger kann Thomas noch immer seine Schweine selbst schlachten. Dies muss er auch, wenn er die beste „Al1le Wurscht“ machen möchte, denn im Gegensatz zu den üblichen Regeln der Wurstproduktion, wird für die Herstellung der „Ahlen Wurscht“ schlachtwarmes Fleisch verwendet. Um 4.00 Uhr morgens werden acht Schweine von einem benachbarten Bauernhof abgeholt und in die Fleischerei gebracht. Um 8.00 Uhr sind sie bereits geschlachtet und zerlegt und die Wurstproduktion ist in vollem Gange. Fleisch und Fett werden zunächst fein zerhackt, dann werden die Gewürze hinzugegeben. Thomas achtet sehr darauf, welche Gewürze hierzu verwendet werden: Meersalz, frisch gemahlener weißer und schwarzer Pfeffer, frisch geriebene Muskatnüsse,

 

Koriander, frischer Knoblauch, welcher in Rum eingelegt wird, „um noch ein wenig mehr Geschmack zu geben“. Thomas greift eine Handvoll der Masse, die noch dabei ist verrührt zu werden, aus der großen Schüssel der Mengmaschine und probiert sie genussvoll. Ich probiere ebenfalls, wobei ich eher vom Gefühl des warmen, weichen Fleisches in meinem Mund als von seiner Würze erstaunt bin.

Thomas und seine Kollegen verteidigen energisch ihr Recht darauf, „Ahle Wurscht“ aus frisch geschlachteten Schweinen herzustellen, da sie davon überzeugt sind, dass warm verarbeitete Wurst einen besseren Geschmack als kalt verarbeitete besitzt. Die EU hat schließlich der „Ahlen Wurst“ den Status eines „geschützten Produktes“ gewährt, wodurch die traditionellen Herstellungsform en der Region, in der sie produziert wird, berücksichtigt werden und die „Ahle Wurscht“ gleichzeitig vor Imitationen geschützt werden soll. Das gewürzte Fleisch wird in große Därme gefüllt, um lange, gerade Würste zu machen.

Dem Brauch entsprechend, stellt Thomas auch andere Formen der „Ahlen Wurscht“ her, wie beispielsweise dünnere Würste, welche er zu Ringen formt oder große, tropfenförmige Würste, die so genannten „Feldkieker“. Nach der recht schnell verlaufenden Produktion, welche auf nur wenige Stunden begrenzt ist, beginnt die nächste Phase der Herstellung, welche in deutlichem Gegensatz zum ersten Teil des Prozesses steht: Nun beginnt die langsame und gemächliche Reifung der „Ahlen Wurscht“. Die Trocknung dauert mindestens sechs bis acht Monate, die größte und wohlschmeckendste „Ahle Wurscht“ reift sogar zwölf Monate. Es ist dieser lange Reifeprozess, dem die „Alte Wurst“ ihren Namen verdankt. Im traditionellen Jahreszyklus, sozusagen dem „Wurstkalender“ Hessens, wurde die „Ahle Wurscht“ als letzte gegessen. Nach diesem Kalender, so erklärt Thomas, begann das Jahr im Oktober, als die Familien ihre Schweine schlachteten. Zu diesem Zeitpunkt wurden frische Würste hergestellt und direkt verzehrt, während man gleich zeitig noch die letzte „Ahle Wurscht“ vom Vorjahr aß. Manche dieser Würste wurden nur einige Wochen getrocknet, um dann während der Erntezeit gegessen zu werden. Gleichzeitig wurden größere, dickere Würste hergestellt, welche viele Monate über aufbewahrt werden konnten. Diese großen Würste wurden in verschiedene Hüllen gefüllt: Blasen, die weiteren Enden des Schweine- oder Rinderdarms oder in Schweinehaut, welche zu Zylindern wurden. Es waren diese größeren Würste welche allgemein, unabhängig von ihrer wechselnden Form und den unterschiedlichen Hüllen, als „Ahle Würschte“ bezeichnet wurden.

Thomas lässt seine „Ahle Wurscht“ in seiner traditionellen ,Wurschtekammer“ reifen. Wir steigen hoch in das Gebäude hinauf, bis in den Speicher. In diesen luftigen Räumen, die bis zu den Dachbalken des Hauses reichen, hängen die Würste an verschiedenfarbigen Bindfäden, die jeweils eine leicht andere Gewürzmischung bedeute n. Die Würste befinden sich in unterschiedlichen Reifestadien, auf manchen ist ein leichter Film von weißem Schimmel zu erkennen. Hier erinnert nichts an das typische Bild einer Fleischerei mit blankpolierten Oberflächen aus Edelstahl. Im Gegenteil, hier bestehen die Wände aus natürlichem, unbehandeltem Lehm. Dass diese rustikalen Räume noch existieren, ist ein weiterer Triumph des nordhessischen Fleischerhandwerks. In der Absicht den traditionellen Praktiken treu zu bleiben, haben sich die nordhessischen Metzger gegen die Standardisierungs-Pläne der EU-Bürokraten gewehrt, welche ausschließlich glatte, abwaschbare Oberflächen für Lebensmittelbetriebe vorsahen. Die nordhessischen Fleischer wussten, dass geflieste, luftundurchlässige Wände, die Luft in ihren Reifekammern stagnieren und somit stickig werden lassen würden. Wenn es keine Lehmwände mehr gäbe, könnten auch die sanfte Atmosphäre und die spezifische Mikro- Flora, welche den Würsten zur langsamen und idealen Reifung verhelfen, nicht mehr existieren. Diese sind ein wesentlich Bestandteil des Prozesses, der den „Ahlen Würschten“ ihren Geschmack und die besondere Textur verleiht.

„Die Wände atmen „, sagt Thomas während er mit seinen großen Händen liebevoll über die raue Oberfläche streicht. „Sie ermöglichen es, dass die Feuchtigkeit nach :llld nach aus den Räumen weicht, während die Würste auf natürliche Weise trocknen.“ Die Fensterläden der Reifekammern sind das einzige Mittel, das Thomas nutzt, um die Temperatur und Luftfeuchtigkeit in diesen einfachen Räumen zu regulieren. Er öffnet und schließt sie dem Wetter entsprechend. Diese Aufgabe übernimmt er stets selbst. jeden Morgen steigt er die Stufen zu seiner „Wurschtekammer“ hinauf, um an trockenen Tagen die frische Landluft herein zu lassen, um dann bei Einbruch der Dunkelheit zurückzukehren, um die Läden für die Nacht zu schließen. Dies gehört zum natürlichen Tagesrhythmus des Handwerkers. Seine Wurstproduktion folgt ebenfalls dem natürlichen Jahreszyklus. Traditionelle .,Ahle Wurscht“ kann ausschließlich in kälteren Monaten hergestellt werden, ideale Bedingungen herrschen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. So produziert Thomas, entschlossen wie er in all seinem Tun ist, seine beste „Ahle Wurscht“ ausschließlich von Ende September bis März.

Thomas‘ Engagement geht jedoch weit über die Wurstproduktion hinaus. Er ist ein Mann, der sich völlig der Sache der „Ahlen Wurscht“ verschrieben hat. Im Jahr 2007 konnten die Besucher der documenta 12, einer der bedeutendsten internationalen Kunstausstellungen der Welt, Thomas Koch, den „Kultur- Metzger“, gekleidet als Joseph Beuys, einen der berühmtesten und einflussreichsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts, antreffen. Thomas bot eine limitierte Auflage an „Ahlen Würschten“ in documenta-Boxen an, welche dazu dienen sollten, den „Kunsthunger“ der Ausstellungsbesucher zu stillen. Diese Verbindung von Kunst und „Ahler Wurscht“ stieß bei manchen Besuchern auf Unverständnis. Ich selbst hingegen halte den Geist dieser beiden Männer für gleichartig. Der Künstler und der Handwerker (,,artist and arti san“), sie beide sind charismatische Selbstdarsteller, sie teilen eine tiefe Überzeugung der Legitimität ihrer Arbeit und beide sind auf ihre Weise Alchemisten, indem sie banale, alltägliche Objekte transformieren. Beuys war der Ansicht, dass jeder Mensch ein Künstler ist. Nicht in dem Sinne, dass jeder sich als Maler, Bildhauer, Musiker oder Schriftsteller verstehen sollte, sondern basierend auf der Idee, dass jeder in der Lage ist, Kreativität und Kunst in seine Arbeit einzubringen. Thomas Koch: „Künstler-Metzger“.

 

Quelle: EssensArt